Die familiäre Situation und Atmosphäre

Die familiäre Situation und Atmosphäre

Die familiäre Situation und Atmosphäre

Die Alkoholerkrankung entwickelt sich schleichend, so dass die Familie über Jahre hinweg die Entstehung der Erkrankung miterlebt und verschiedenen Phasen des „Nicht-Wahrhabens-Wollens", des Verleug nens und Bagatellisierens durchläuft. Die Angehörigen erleben mit, wie sich der abhängige Elternteil oder der Partner seelisch und körperlich verändert. Im Verlauf der Entwicklung der Abhängigkeit isolieren sich die Familienmitglieder zunehmend voneinander, die familiäre Kommunikation bricht zusammen und es kommt zur Entwicklung von Abwehrmechanismen und spezifischen Verhaltensweisen.
Ist ein Familienmitglied suchtkrank, so bedeutet dies für den Partner und die Kinder einen erhöhten Stressfaktor. Das Familienklima ist durch Streitigkeiten, Konflikte, Feindseligkeiten und Demütigungen geprägt, auch kann es zu Gewalthandlungen zwischen den Eltern, aber auch gegenüber den Kindern kommen. Alkoholkranke Familien erleben große Krisen wie z. B. soziale Isolation, finanzielle Probleme, Arbeitsplatz-verlust sowie die sich verschlechternde Beziehung der Eltern. Die Familie bewegt sich oftmals Jahre lang zwischen neuer Hoffnung und wiederkehrenden Enttäuschungen, die gekoppelt sind an die Abstinenz und Rückfälligkeit des Abhängigen. In alkoholbelasteten Familien kommt es also zu einer Häufung von Stressoren, welche von den Betroffenen als starke psychischer Belastungen empfunden werden, woraufhin sich als Reaktion häufig psychische oder psychosomatische Störungen, wie z. B. Angsterkrankungen und Depressionen entwickeln. Alkoholismus versteht sich hier als eine innerfamiliäre Stresssituation. (vgl. Klein 2004 a)
Kinder sind im besonderen Maße von der Abhängigkeit der Eltern betroffen, da sie auf die Erziehung und Fürsorge der Eltern angewiesen sind und sich dem Familiesystem nicht entziehen können. Die Eltern in suchtbelasteten Familien können jedoch ihren erzieherischen Pflichten gegenüber den Kindern nicht im ausreichenden Maße nachkommen. Der abhängige Elternteil ist auf sein Suchtmittel konzentriert, wohingegen der nichtabhängige Elternteil seine gesamten Kräfte für das Funktionieren der Familie und der Bewahrung der Fassade in die Öffentlichkeit hin verbraucht. Das Erziehungsverhalten ist unbeständig, mal wird ein bestimmtes Verhalten gestraft, dann wieder belohnt.
(vgl. Klein 1998: 10; Bertling 1993: 55)
Da den Kindern meist entsprechende Bewältigungsmechanismen fehlen, stellt die familiäre Situation für sie einen noch größeren Stress dar, als für die Erwachsenen. So fühlen sich die Kinder einsam und isoliert. Auch besteht in suchtbelasteten Familien ein höheres Risiko für psychische, emotionale und sexuelle Kindesmisshandlung sowie Kindesvernach-lässigung. Besonders hoch ist dieses Risiko, wenn beide Elternteile abhängig sind. Ein unsicherer Familienzusammenhalt und die feindselige Stimmung zwischen den Eltern sind Kennzeichen für Suchtfamilien. Es herrscht eine ständig gespannte Atmosphäre mit extremen, manchmal minutiösen Stimmungsschwankungen. Die Kinder lernen recht schnell, die jeweilige Situation und Befindlichkeiten genau zu beobachten und unter Missachtung der eigenen Gefühle das Verhalten den Stimmungsschwankungen des abhängigen Elternteils anzupassen.
(vgl. Arenz-Greiving 1998: 32 ff; Klein 2004 b)
„Ich merke das sofort, wenn der schlechte Laune hat. Es ist irgendwie so sehr in mir drin, ich sehe das schon an der Tür. Ich sehe auch sofort wenn er was getrunken hat. Also das habe ich sehr gut geübt! Bernd 17" (aus Arenz-Greiving 1998: 38)

Sharon Wegscheider (1988: 61 f) fasst die Merkmale einer Alkoholikerfamilie wie folgt zusammen:

  • Verleugnung des Problems, massive Selbsttäuschung
  • nicht Wahrnehmen der Gefühlevollkommen starre und zwanghafte Abwehrmechanismen
  • niedriges Selbstwertgefühlfestgefahrene und zwanghafte Verhaltensweisen
  • sehr eingeschränkte und gestörte Kommunikation

1.2.2 Regeln und Botschaften in alkoholbelasteten Familie

In suchtbelasteten Familien gibt es unausgesprochene Regeln, nach denen sich alle Familienmitglieder zu richten haben. Die Regeln werden vom abhängigen Elternteil aufgestellt und entsprechen seinen persön-lichen Zielen, den Zugriff auf Alkohol zu garantieren, Schmerzen zu vermeiden und seine Abwehr zu schützen. Diese Regeln sind in ihrem Ausprägungsgrad familienspezifisch und werden durch Blicke, Gesten und Reaktionen vermittelt, sie halten das Familiensystem geschlossen und blockieren die Entwicklung jedes einzelnen Familienmitgliedes. Kinder aus alkoholbelasteten Familien lernen schnell ihr Verhalten nach diesen Regeln auszurichten. (vgl. Wegscheider 1988: 87 ff)

Familienregeln in Suchtfamilien nach Sharon Wegscheider (1988: 88 f):

  • Das Wichtigste im Familienleben ist der Alkohol.
  • Der Alkohol ist nicht die Ursache des Problems.
  • Der Alkoholiker ist nicht für seine Abhängigkeit verantwortlich - schuld sind die Anderen, sind die Umstände.
  • Der Status quo muss erhalten bleiben, koste es was es wolle.
  • Jeder in der Familie ist ein „Enabler", sozusagen ein „Zuhelfer".
  • Niemand darf darüber reden, was in der Familie wirklich los ist, weder untereinander noch mit sonst jemandem.

Claudia Black (1988: 43) hat die Regeln für suchtbelastete Familien wie folgt zusammengefasst: „Rede nicht, traue nicht, fühle nicht".

Da Suchterkrankung allgemein immer noch eine stigmatisierte Krankheit in unserer Gesellschaft ist, stellt das oberste Ziel der Familie die Wahrung des Geheimnisses der Abhängigkeit dar. Alle Familienmit-glieder leugnen das Alkoholproblem nach innen und nach außen. So lernen schon die Kinder frühzeitig mit niemanden über die familiäre Situation zu sprechen. Neben der massiven Verleugnung des Suchtproblems überhaupt, werden auch Beziehungsprobleme nicht angesprochen. Verschweigen, Verdrängen, Verharmlosen und die Problemursachen nach außen zu schieben, scheint oft die einzige Lösung zu sein, um die Situation auszuhalten. (vgl. Arenz-Greiving 1998: 32 ff)
Wie auch diese Beispiel verdeutlicht: „Manchmal tue ich so, als würde meine Mutter gar nicht trinken, auch wenn sie gerade trinkt. Ich spreche nie darüber. - Melody, 9 Jahre" (aus Black 1988: 51)
Auch über Gefühle wird nicht gesprochen, höchstens in Form von gegenseitigen Anklagen und Vorwürfen. Angstgefühle werden unterdrückt, Gefühle von Hilflosigkeit werden, durch den Versuch den Abhängigen zu kontrollieren, kompensiert. Die Abwehr der Gefühle führt dazu, dass sich die Angehörigen selbst immer fremder werden und nicht mehr wissen, was sie fühlen und denken. Kinder entwickeln sehr früh Verleugnungssysteme hinsichtlich ihrer Empfindungen und Wahrnehmungen. (vgl. Arenz-Greiving 1998: 34 ff; Wegscheider 1988: 87 ff)
„... Ich hatte Angst um meinen Vater, aber ich hatte keine Angst um mich selbst. Es wäre mir im Traum nicht eingefallen, Angst um mich zu haben. Ich war nicht enttäuscht. Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht. Ich war nie böse auf ihn. Es gab nichts, weswegen ich hätte böse sein sollen. Ich weinte selten. Worüber hätte ich auch weinen sollen." (aus Black 1988: 60)
Kinder in Alkoholikerfamilien haben gelernt, sich auf niemanden zu verlassen, niemanden zu vertrauen. Aufgrund der unberechenbaren familiären Situation, der unvorhersehbare Stimmungswechsel der Eltern, der immer wieder enttäuschten Hoffnungen und uneingelösten Versprechen haben die Kinder gelernt, dass es das Beste ist, sich auf sich selbst zu verlassen. (vgl. Lambrou 2000: 36 ff)
„Ich bin anderen gegenüber immer auf der Hut. Ich möchte ihnen vertrauen, aber es ist viel leichter, mich nur auf mich selbst zu verlassen. Ich bin nie sicher was andere Menschen von mir wollen." (aus Black 1988: 52)

Über die Autorin/den Autor
Alexandra May ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH). Zusätzlich studierte sie Erwachsenenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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