Die Krise und Autismus-Spektrum

Die Krise und Autismus-Spektrum

a) Die Krise und das Krisenpotential bei Menschen mit Autismus

Eine Krise wird als Höhepunkt einer hoch anspannenden Situation bezeichnet. Sie tritt in der Regel dann ein, wenn der bisherige Entwicklungsverlauf ausweglos erscheint und weder in dieser Form weiter gehen kann noch klar ist, in welche Richtung sich der zukünftige Weg wenden wird. Die Krise ist also ein Wendepunkt im Entwicklungsverlauf. (vgl. Wilczek (2012)) Es besteht ein großer emotionaler oder sozialer Mangel, der so nicht mehr tragbar ist. (Senckel/Pohlmann (2008), S. 15ff) Für gewöhnlich führt diese scheinbar ausweglose Situation zur vorrübergehenden Aufgabe der eigenen Autonomie und zum sich Anvertrauen der Hilfe anderer. Begleitende Bezugspersonen sind zumeist ähnlich betroffen von den sichtbar starken Belastungen unter denen die betroffene Person steht. Es verlangt ihnen viel Kraft und Durchhaltevermögen ab, Unterstützung und Begleitung zu geben. (vgl. Wilczek (2012))

Ohne neue Bewältigungsmöglichkeit kann die Krise zum Ende der bisherigen Lebenssituation führen. Sowohl physischer Tod, als auch ein absolutes Ende einer bestehenden psychischen, seelischen, sozialen und organischen Situation ist möglich. (Senckel/Pohlmann (2008), S. 15ff) Beispielsweise kann eine Ehekrise zum Ende, also zum Tod der Ehe führen, eine gesundheitliche Krise kann zum Absterben der Niere führen, eine Familienkrise zum endgültigen Kontaktabbruch mit der Mutter.

Eine Krise zwingt die betroffene Person zu neuen Wegen und zur Öffnung gegenüber einer neuen Orientierung bezüglich der weiteren Entscheidungen im zukünftigen Lebensverlauf. Im günstigsten Fall eröffnet die Krisenbewältigung neue Erfahrungen und Wege und bereichert das eigene Leben mit bisher unbekannten Verhaltensweisen und Denkmustern.

Menschen mit Autismus unterliegen bedingt durch das Bild des spezifischen Syndroms einer stark erhöhten Vulnerabilität gegenüber der Entstehung von Krisen. Sie sind in den Bereichen der Wahrnehmungsverarbeitung und in den Besonderheiten der sozialen Interaktion sehr viel häufiger einer hohen Spannung ausgesetzt. (vgl. Wilczek (2012))

Schon das Kindesalter mit Autismus ist bedroht von der möglichen Entstehung von Krisen. Die Angst vor Neuem aufgrund eines fehlenden Kohärenz-Gefühls ist bei vielen dieser Kinder stark ausgeprägt. Einer solchen Angst wird zumeist mit stereotypem Verhalten, zwanghaften und Sicherheit vermittelnden Routineabläufen im Alltag ausgewichen. Kommt es zur Konfrontation sind Wutanfälle, Zerstörung von Gegenständen, Selbst- und Fremdverletzung keine Seltenheit als Ausdruck der Angst und hilfloser Abwehrversuche. (vgl. Autismus Deutschland e.V.: Entwicklung und Prognosen (o.J.))

In der Pubertät kommen neue Herausforderungen auf den jungen Menschen mit Autismus zu: körperliche Veränderungen, stärker werdende sexuelle Bedürfnisse und sich wandelnde Anforderungen und Erwartungen aus der Umwelt. Junge Menschen mit Autismus können nur schwer diesen Veränderungen und neuen Reglementierungen gerecht werden. Sie bleiben auf Hilfsangebote aus ihrem Umfeld angewiesen und unterliegen erhöhten Schwierigkeiten auf dem Weg in eigene Autonomie. Der Wunsch nach Kontakten mit Gleichaltrigen ist vorhanden, doch gestaltet sich eine gegenseitige verständliche kommunikative Kontaktaufnahme sehr schwierig. Das bewusste Erkennen beziehungsweise diffuse Spüren der eigenen Andersartigkeit und der eigenen autistischen Isolation kann ein erhöhtes Krisenpotential mit sich bringen und Depressionen begünstigen. Ein Rückgriff auf stützende soziale Peer-Beziehungen ist für diese Menschen in der Regel nicht möglich. (vgl. ebd.)

Der Übergang in das Erwachsenenalter bringt eine mögliche Ablösung vom Elternhaus und eine dadurch hervorgerufene neue Wohn- und Lebenssituation mit sich. Der Übergang von der Schule in eine ungewisse Berufs- beziehungsweise Arbeitsplatzfindung ist ein weiterer Schritt. Die entweder fehlende oder unzureichend als Kommunikationsmittel genutzte Sprache kann neue unbekannte und angstauslösende Situationen hervorrufen, die als nicht bewältigbar empfunden werden können, weil alternative Handlungskompetenzen fehlen. (vgl. ebd.)

„Sie sind meist nicht hinreichend darauf vorbereitet, sich aus den festen, ihnen vertrauten Strukturen der Familie, der Schule und der gewohnten sozialen Bezüge zu lösen. Sie stehen damit vor allem in sozialer und emotionaler Hinsicht vor schwierigen und komplexen Situationen. Zugleich nimmt ihr Bedürfnis zu, in ihrer Eigenart, ihren Bedürfnissen und Zielen anerkannt zu werden. Dies kann zusammen mit dem zunehmenden Kommunikationsbedürfnis zu Aggression und Erregung führen, wenn Situationen und Verhaltensweisen aus der Sicht des autistischen Menschen falsch beurteilt werden." (ebd.)

In einer krisenhaften Zuspitzung kann es innerhalb kürzester Zeit unter großer innerer Anspannung zu einer erheblichen Steigerung eines abweichenden meist aggressiven, regressiven und isolierenden Verhaltens kommen. Die bis dahin kontinuierlich vorhandenen nützlichen Verhaltensmöglichkeiten von Fertigkeiten, Aktivität und eigenen Selbsthilfefähigkeiten werden abrupt unterbrochen. Scheinbar stehen sie in der Krise nicht als wirksame Bewältigungsstrategien zur Verfügung und sind unwirksam gegen den Abbau der inneren Spannungen. (vgl. Albertowsi (2009), S. 465ff) Die Regulation der eigenen Grundbedürfnisse fällt in ein Ungleichgewicht. Regressive Verhaltensweisen wie Einnässen, Einkoten oder häufiges nicht organisch bedingtes Erbrechen können auftreten. (vgl. Scho (2010), S. 20ff) Es kann zum völligen Rückzug aus dem Alltagsgeschehen kommen, der in einen Zustand von scheinbar völliger Teilnahmslosigkeit übergeht. (vgl. Albertowsi (2009), S. 465ff)

Konstruktive Konfliktbewältigungsstrategien stehen der Person von sich aus in der Regel nicht zur Verfügung. Es kommt zu einer gravierenden Beeinträchtigung des Wohlbefindens, der Gesundheit, der Belastbarkeit und Anpassung an Alltagsanforderungen des Betroffenen und seiner Bezugspersonen. In Abhängigkeit des Sprach-, Intelligenz- und Adaptationsniveaus variiert das Verhalten in seiner Ausprägung individuell verschieden. Je nachdem welche repetitiven Verhaltensweisen im Allgemeinen zum Verhaltensrepertoire gehören, werden sich diese in der Krise schließlich verstärkt zeigen bis hin zu lebensbedrohlichem selbstverletzendem Verhalten. Es wird vermutlich eingesetzt mit dem Versuch der Spannungsreduktion, zur Kontrolle über das eigene Erleben und Fühlen, zur Mitteilung von Bedürfnissen aber auch um Anforderungen zu vermeiden und Reaktionen von Bezugspersonen zu erzwingen. In jedem Fall lösen diese Verhaltensweisen einen hohen Handlungsdruck im sozialen Umfeld aus. Ebenso verhält es sich bei fremdaggressivem Verhalten und Aggressionen gegen die dingliche Umwelt. (vgl. ebd.)

Generell können verschiedene Situationen, Abläufe, Unbekanntes, Ungewohntes und Neues angstauslösend und somit handlungshemmend sein. Sobald eine gewohnte Routine unterbrochen wird, bietet die Situation Krisenpotential für Menschen mit Autismus. Zumeist sind unvorhersehbare Ereignisse mit einer Überflutung von Sinnesreizen verbunden. Sie weichen vom bekannten und vertrauten Schema ab und lösen somit Orientierungslosigkeit und Sicherheitsverlust aus. (vgl. Eckert/Stieler (2010), S. 6ff) Eine Fixierung auf Details und das Nicht-Erkennen von globalen Zusammenhängen wird deutlich.

Über die Autorin/den Autor
Katja Driesener schloss 2012 ihr Bachelor-Studium Heilpädagogik erfolgreich ab. Sie betreut im Rahmen der Einzelfallhilfe Kinder mit Autismus innerhalb ihrer Familien und ist als Schulhelferin tätig. Im Autismus-Bereich bildet sie sich intensiv weiter. Vor dem Studium absolvierte sie eine Ausbildung zur Heilerziehungspflegerin.

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