Besonderheiten der Erwachsenenpädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung

Besonderheiten der Erwachsenenpädagogik für Menschen mit geistiger Behinderung

Volker Carroll (2000: 313) stellt fest, dass Erwachsenenbildung bei Menschen mit geistiger Behinderung weit mehr ist als ein systematisiertes Lernangebot. Es ist ein Ort der zwischenmenschlichen Begegnung, die für jeden einzelnen Teilnehmer ein Stück Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und eine damit verbundene Verbesserung der Lebensqualität bedeutet. Im Folgenden werden weitere Besonderheiten der Erwachsenenpädagogik von Menschen mit geistiger Behinderung aufgezeigt.

  1. Förderung gleich Bildung? Bildung gleich Freizeit
    Im traditionellen Sinne wird die Bildungsarbeit mit schwer geistig behinderten Menschen gern als „Förderung" bezeichnet. Förderung ist jedoch ein handlungsbezogener Begriff und impliziert die von professionellen Helfern gesteckten Ziele und nicht die vom Betroffenen ausgehenden Interessenlage. Bildung hingegen ist theoretisch begründet, ist einer menschlichen Emanzipation verpflichtet und schließt immer Lern- und Entwicklungsprozesse im reflexiven Sinne mit ein. Unter Einbeziehung des Empowermentgedanken ist der Begriff Förderung im Rahmen von Bildungsarbeit dann legitim, wenn die Angebote durch stimulierende Lernsituationen und assistierende Hilfe die Teilnehmer in die Lage versetzten, etwas aus sich zu machen, d. h. z. B. ihr Leben für sich sinnvoll und weitestgehend autonom zu gestalten. (vgl. Theunissen 2003: 58) Erwachsenenbildung geistig behinderter Menschen wird zusätzlich oftmals dem Freizeitbereich zugeordnet. Doch Bildung ist immer mit einem Lernziel verbunden und die Angebote werden didaktisch-methodisch aufbereitet, wohingegen Freizeit eben als „freie Zeit" verbracht wird und u. a. durch Spontaneität, Zufall und Erholung geprägt ist. Um eine Wertschätzung und Anerkennung der Erwachsenenpädagogik bei Menschen mit geistiger Behinderung zu erreichen ist die Abgrenzung der Erwachsenenpädagogik zum Freizeitbereich dringend erforderlich. (vgl. Theunissen 2003: 61)

  2. Notwendigkeit des Assistierens
    Der Unterschied zur Erwachsenenpädagogik bei nichtbehinderten Menschen liegt u. a. in der Tatsache, dass erwachsene Menschen mit Behinderung in stärkerem Maße von ihrer Umwelt und den Mitmenschen (sozialer Abhängigkeit) abhängig sind. Georg Theunissen merkt dazu an, dass die Mehrzahl der Betroffenen ohne Unterstützung mit der Eigenverantwortung, die die allgemeinen Bildungsangebote abverlangen, überfordert wäre. Demnach kommt es darauf an, die Betroffenen durch gezielte Angebote zur Eigenverantwortung und zur Artikulation ihrer Wünsche anzuregen. Diese Unterstützung soll nach Maßgabe der „neuen Kultur des Assistierens", welche im allgemeinen Weiterbildungskonzept als teilnehmerorientiert und erwachsenengemäß ausgewiesen ist, stattfinden. Hier muss sich die Erwachsenenpädagogik deutlich von vom bisherigen erzieherischen Ansätzen der Heilpädagogik abgrenzen und sich dem Assistenzbegriff hinwenden. Im Gegensatz zu nichtbehinderten Menschen ist bei der genannten Zielgruppe jedoch das Verhältnis von Erwachsenenbildner und „Kunden" durch die Notwendigkeit und Dringlichkeit zum Assistieren geprägt. (vgl. Theunissen 2003: 55 ff)

  3. Lebensweltliche Bezugssysteme
    Ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur Erwachsenenpädagogik mit nichtbehinderten Menschen ist die Kontextgewichtung, d. b. in der Bildungsarbeit von Menschen mit geistiger Behinderung muss stets das soziale Bezugsfeld der Teilnehmer einbezogen werden. Hans Linden und Norbert Schwarte (1985) betonen hierzu: „Der Lernfortschritt des Behinderten hängt von der Lernfähigkeit des ihn umgebenden sozialen Systems entscheidend ab. (...) Lernen im Sinne langfristiger wirksamer, erfahrungsbedingter Veränderungen kann bei geistig behinderten Erwachsenen nicht in Gang gebracht werden, wenn sich nicht das umgebende soziale Bezugsystem mit verändert, also auch lernt..." (zitiert in Theunissen 2003: 59). Erwachsenenbildung ist demnach nur erfolgreich, wenn Emanzipation zugelassen wird. Ein wesentlicher Bestandteil der Bildungsarbeit mit dieser Zielgruppe ist demnach die Zusammenarbeit und Einbeziehung des sozialen und lebensweltlichen Bezugsfeldes der Teilnehmer (wie z. B. die Eltern, Mitarbeiter von Wohneinrichtungen). Bei den Bezugspersonen muss die Bereitschaft gefördert werden, dem geistig behinderten Menschen mehr Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu gestatten. Nur durch die Veränderung der gegebenen Lebensbedingungen ist die Bildungsarbeit wirksam (vgl. Theunissen 2003: 59).

In der Arbeit mit Erwachsenen, die als geistig schwer bzw. mehrfach behindert gelten haben wir es oftmals mit Situationen zu tun, die über ein Gruppenangebot hinaus ein verstärktes Maß an Unterstützung notwendig machen, um die Bildungsprozesse anzustiften bzw. Bildungsmöglichkeiten zu optimieren. Dies gilt speziell für Personen, die durch institutionelle Rahmenbedingungen schwer hospitalisiert wurden (vgl. Theunissen 2003: 164). Das Lernen von Menschen mit geistiger Behinderung unterscheidet sich vom Lernen nicht behinderter Menschen. Abstraktes Lernen ist bei diesem Personenkreis nur sehr eingeschränkt möglich. Finden Lernprozesse jedoch unmittelbar und konkret, d. h. lebensnah und auf bekannte Situationen und Handlungen bezogen statt sind sie Erfolg versprechend. Sinnvoll werden die Bildungsangebote wenn sie in das Alltagsleben der Betroffenen integriert werden und für sie von konkreter, insbesondere auch von sozialer Bedeutung sind. Alltagsbezogenes und handlungsorientiertes Lernen ist demnach das wichtigste methodische Instrument.

Über die Autorin/den Autor
Alexandra May ist Diplom-Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin (FH). Zusätzlich studierte sie Erwachsenenpädagogik an der Humboldt-Universität zu Berlin.

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